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(11/12 2019)

Zähneputzen verboten? – Glückliche Momente mitten im Elend erwünscht?

Zähneputzen verboten? – Glückliche Momente mitten im Elend erwünscht?

Prof. Dr. Hartwig Frankenberg
Prof. Dr. Hartwig Frankenberg

Mein langjähriger Zahnarzt in der fernen Fuggerstadt Augsburg sagt immer, man solle nicht die Zähne, sondern nur deren Zwischenräume putzen! Er versteht das nicht als schwäbischen Scherz, sondern als schon fast philosophisch fundierten Ernst seiner ganzheitlich praktizierten Zahnmedizin. Er behauptet, dass sich das Glück oder Unglück eines menschlichen Gebisses nicht so sehr im Putzen der eigentlichen Zähne, sondern im sorgfältigen Reinigen ihrer Zwischenräume entfalten würde. Er hat Recht mit seiner merkwürdigen Empfehlung, denn seine Methode führt zu nachhaltigen Erfolgen!

Es ist also die Mitte – genauer: die Mitte einer symmetrischen Ordnung, die wir im Auge behalten sollten. Der deutsche Kunsthistoriker Wilhelm Pinder (1878-1947) beschreibt in seinem Spätwerk „Von den Künsten und der Kunst“ (1948) die Symmetrie als eines der deutlichsten Naturgesetze: „Auch wenn wir auf einer Wand nur zwei Bilder oder an ihr zwei Stühle symmetrisch anordnen, so haben wir das Dritte mit eingerechnet: die Mitte des Abstandes. Wir können sie betonen, aber wir müssen es nicht. Auch unbetont ist sie da, nur anders, nur mit anderer Wirkung.“

Über Symmetrie als Denkfigur kommt Pinder auf die von uns Menschen geschaffenen Sinnbilder und Kunstwerke zu sprechen, die etwas aussagen, „das sie nicht selber sind, das erst aus ihnen entsteht…“. Und schließlich: „Die Kunst rettet Werte, es gäbe sie nicht, wenn es keinen Tod gäbe. Jedes Kunstwerk ist eine Rettungshandlung am Vergänglichen.“ Sind das nicht Sätze, die – bei aller Symmetrie – mitten ins Herz treffen?

Thomas Blomenkamp, der 1955 in Düsseldorf geborene Komponist, brachte am 18. Februar 2001 seine Oper „Der Idiot“ (nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor Michailowitsch Dostojewski) aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Vereinigten Städtischen Bühnen Krefeld-Mönchengladbach als Auftragswerk zur überaus erfolgreichen Premiere. Das Libretto war in enger Kooperation mit der kürzlich verstorbenen Ulrike Gondorf entstanden.

Im Mittelpunkt des Werkes steht die schillernde Figur des russischen Fürsten Myschkin – Erlöser, Epileptiker und Träumer, der alles Leiden in sich aufsaugen will, aber zwischen den Mühlsteinen echter und falscher Gefühle zerrieben wird. Aufgabe von Komponist und Librettistin war es, die Seelenlandschaften auch aller anderen Figuren als maximale Trenn- und Tiefenschärfen in Musik zu verwandeln. Dabei findet eine Phrase von Gondorf/Dostojewski besondere Bedeutung: „Mitten in der Traurigkeit und der Finsternis gibt es für die Dauer eines Blitzes Harmonie, Schönheit, Versöhnung und ein höheres Sein.“

Auf der Titelseite der vorliegenden Ausgabe unseres Konzertkalenders haben wir den Ausriss einer Kompositions-Skizze abgebildet. Es handelt sich um Takt 190 aus dem Walzer der drei Klavierstücke „Marsch, Intermezzo und Walzer“ von Thomas Blomenkamp, die er der Pianistin Schaghajegh Nosrati gewidmet hat. Der Farbwechsel Blau-Rot in der Skizze hat übrigens keine tiefere Bedeutung. Er habe tags darauf – so der Komponist – einfach zum nächstliegenden Stift gegriffen! Die Uraufführung der drei Stücke fand am 16. Januar 2019 im Sendesaal von Radio Bremen statt. Die Original-Aufnahme – sie wurde am 14.04. gesendet – können Sie unter „Musik hören“ auf der Homepage des Komponisten gerne aufrufen: www.thomas-blomenkamp.de.

Der Ausriss zeigt – in eindrucksvoller Symmetrie – eine entscheidende Stelle aus dem Walzer. Blomenkamp bemerkt dazu: „Eine Sekunde aus diesem heftig wirbelnden Stück ist ein Moment, in dem die beiden Hände in extreme Höhe und Tiefe auseinander zu driften beginnen.“ Als expressive Einheit von Klarheit, konsequenter Formkraft und musikalischer Poesie, markiert die tönende Rhetorik eine rauschhafte Unverwundbarkeit, die entfernt an Rachmaninow erinnern könnte. Währenddessen umfassen die beiden Hände in ihrem extremen Abstand gleichnishaft die Kraft um eine große Mitte!

Einen nachhaltigen Eindruck dieser oder ähnlicher Erfahrungen konnten die Besucherinnen und Besucher der Reihe „Musik im Gespräch!“ am 24. September in der Musikbibliothek gewinnen – auch angesichts des Zitates von Antonin Artaud (Titelseite) über die „tobende Ordnung“. Es ist schließlich das Leitmotto von Thomas Blomenkamp! Sie, liebe Leserin und Leser des Konzertkalenders, können das Interview sowie Musikaufnahmen und Informationen unseres Komponisten (z.B.) auf seiner Homepage über das Mysterium der symbolischen Mitte in seinen Werken sicher ebenso faszinieren. Fragen Sie vielleicht auch mal Ihren Zahnarzt?

Herzliche Grüße –
Prof. Dr. Hartwig Frankenberg

Editorial

Titelgrafik: Michel Schier, Düsseldorf