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„Musik im Gespräch!“(03/04 2015)

Thorsten Göbel: „Musik ist Lebensqualität! Sie ist da, wo das Wort aufhört!“

Thorsten Göbel: „Musik ist Lebensqualität! Sie ist da, wo das Wort aufhört!“

Kantor Thorsten Göbel mit seiner besonderen Ausstrahlung aus Heiterkeit, Begeisterung und Ernst, hier beim Dirigat im Festgottesdienst zum 100jährigen Jubiläum der Auferstehungskirche Düsseldorf am 29. Mai 2014. Foto: Thomas Wiedbrauck

Thorsten Göbel, seit 2002 Kantor an der Auferstehungskirche in Oberkassel im Gespräch mit unserer Redaktion.

Thorsten Göbel stammt aus einem kleinen Taunusdorf in der Nähe von Idstein und begann seine musikalische Ausbildung mit sechs Jahren. Mit zwölf nahm er seinen ersten Orgelunterricht und erhielt seine erste Anstellung als Organist und Chorleiter ein Jahr später. Direkt nach dem Abitur begab er sich zu vorbereitenden Studien nach Frankreich an die „Ecole nationale de musique et danse de Valence“. Neben den Fächern Tuba, Solfége (Gehörbildung und Musiktheorie) und Gesang studierte er Orgel bei dem Titularorganisten Dominique Joubert an der Kathedrale Saint-Apollinaire von Valence und war selbst Organist an der „Eglise St. Jean de la Paroisse“ in Grenoble.

Danach begann er 1996 das Studium der Evangelischen Kirchenmusik an der Musikhochschule Würzburg (Prof. Gerhard Weinberger), das er mit dem A-Examen 2000 abschloss. 2002 beendete er erfolgreich ein Aufbaustudium im Fach Dirigieren/Orchesterleitung. Schon während des Studiums begleitete er verschiedene berufliche Engagements wie Chorleiter-Assistenz, Stimmbildung und Gastdozenturen u.a. in Siena, Würzburg, Darmstadt, Heidelberg und Frankfurt/M. Er genoss ein Stipendium bei den Bayreuther Festspielen und konzertierte als Dirigent, Organist und Cembalist mit verschiedenen Chören und Sinfonieorchestern. Außerdem führten ihn Konzertreisen in das benachbarte europäische Ausland, nach Jerusalem, Buenos Aires und New York.

Im Juli 2002 wurde er zum Kantor der Evangelischen Kirchengemeinde Düsseldorf-Oberkassel berufen, einem Amt, das zuvor über Jahrzehnte hinweg von zwei Kantoren ausgeführt wurde. Seitdem leitet er die gesamte kirchenmusikalische Chor- und Orchesterarbeit, inklusive des liturgischen Orgelspiels während der Gottesdienste. An der Auferstehungskirche hat er 2005 die Konzertreihe „Oberkasseler Orgelfrühling“ ins Leben gerufen und gewinnt dazu regelmäßig Gastorganisten aus Deutschland und anderen Ländern. Mit überaus erfolgreichen Kirchenkonzerten wirkt er als Chor- und Orchesterdirigent über die gemeindliche Arbeit weit hinaus.

Als „Landtagsorganist“ begleitet er seit 2008 die monatlich stattfindenden Morgenandachten im „Raum der Stille“ im Landtag NRW und erfreut dort darüber hinaus Abgeordnete, Landtagsmitarbeiter und Besucher immer wieder mit Chor- und Orchesterkonzerten im Landtagsgebäude. (www.kantorei-oberkassel.de)

Können Sie sich an Ihre früheste Begegnung mit der Musik erinnern?

Ich war etwa fünf Jahre alt, als ich Klavier spielen lernen wollte. Das war meinen Eltern zu teuer. Stattdessen lernte ich zunächst Akkordeon, einem geselligen und durchaus anspruchsvollen Instrument, das außerdem schon Richtung Orgel zeigte – zumindest mit der rechten Hand an den Tasten. Ich spielte fleißig, nahm an Wettbewerben teil und gab auch ersten Unterricht bei uns im Dorf. Ich erinnere mich außerdem an eine Musikkassette mit klassischer Musik in meinem Elternhaus. Darunter war eine Aufnahme des bekannten Klavier-Rondos „Aufforderung zum Tanz“ von Carl-Maria von Weber in der Orchesterfassung von Hector Berlioz. Als ich diese Musik hörte, fasste ich den Entschluss, Dirigent zu werden – da war ich sechs Jahre alt.

Wie entwickelte sich Ihr Verständnis für die Orgel als Instrument und für die Orgelmusik?

Ich war 12 Jahre alt, als uns in der Schule der Musiklehrer den Bau der Orgel erklärte. Es war für mich faszinierend zu erleben, wie hier der äußerst komplexe Bau dieses Instrumentes gewissermaßen aus dem Bild einer Veranschaulichung herauswuchs. Davon war ich so angetan, dass ich in den darauffolgenden Tagen im Pfarrhaus fragte, ob ich mir einmal die Orgel anschauen könnte. Ich bekam ganz selbstverständlich die Schlüssel für Kirche und Orgel in die Hand gedrückt und ging an einem Samstagmorgen um 10 Uhr zur Kirche. Dort schloss ich mich ein und verbrachte den ganzen Tag wie in Rausch und Trance, spielte die Orgel, schaute mir das Innere genau an, probierte alles aus und vergaß dabei die Zeit. Nachmittags riefen meine Eltern im Pfarrhaus an, ob etwas mit mir passiert sei. „Nein, in der Kirche brennt noch Licht und Orgelmusik ist zu hören. Es wird ihm schon gut gehen.“ Um 21 Uhr war ich wieder zu Hause.

Die Kantorei Oberkassel und der Kinderchor beim großen Weihnachtsgottesdienst im Landtag NRW.Foto: Landtag NRW

Das hatte sicher Folgen?

Ja, jetzt wurde es konkret: Ich erhielt Orgel- und Klavierunterricht bei unserem Kantor in Idstein, außerdem Gesangunterricht. Und schon ein Jahr später – ich war dreizehn – erhielt ich meine erste Stelle als Organist in unserem Dorf. Mit 18 kaufte ich mir von meinem ersparten Orgelgehalt mein erstes eigenes Auto.

Welche Motive haben Sie dazu bewogen, die Musik zu Ihrem Beruf zu machen?

Das ist bei mir leicht zu erklären: Naturbegabung. Für mich stand es nie außer Frage, etwas anderes als Musiker zu werden. „Musik als Klangrede“, das ist meins! Ich konnte mir ausrechnen, dass meine Generation noch attraktive Kirchenmusikerstellen bekommen kann. Heute hat sich die Stellenlage etwas verändert.

Welche Bedeutung hatte für Sie das Studium der Kirchenmusik?

Direkt nach dem Abitur wechselte ich zu Vorstudien für eine kurze und für mich wichtige Zeit nach Valence und Grenoble in Frankreich – ein neues Leben, eine andere Sprache, eine andere Kultur, ein neues Savoir Vivre. An der „Ecole nationale de musique et danse de Valence“ belegte ich die Fächer Tuba, Solfége und Gesang und studierte Orgel bei dem Titularorganisten Dominique Joubert an der Kathedrale Saint-Apollinaire.

Kantor Thorsten Göbel überreicht die Festschrift „100 Jahre Kantorei Oberkassel – 1913 bis 2013“ an Corina Gödecke, Präsidentin des Landtags NRW.Foto: Privat

Was haben sie in Valence und speziell bei dem Organisten Dominique Joubert gelernt?

Ich habe in der Familie meines Orgellehrers gewohnt und war Teil davon. Rückblickend habe ich in dieser Zeit menschlich viel mehr gelernt als musikalisch. Mein erstes Leben als Kind, Jugendlicher und Abiturient war beendet und mir wurde in Frankreich ein Blick auf einen beginnenden neuen Lebensabschnitt geöffnet. Das war ein echtes Geschenk! Der Kontakt zu den Choristen in Grenoble brachte mir unvergessliche Erlebnisse, Silvesterfeier verkleidet als Gallier, den Frühling am Fuße des Vercors – unten Schneematsch und oben strahlender Sonnenschein. Mein Lehrer gab mir einen neuen Zugang zur französischen Orgelmusik des Barock und der Romantik. Während der langen Autofahrten von Valence nach Grenoble erzählte er viel über französische Komponisten, als wäre er dabei gewesen: über Berlioz, der am Bahnhof von Valence vom Mistral überrascht wurde, von Pierre Cocherau, den man im Conservatoire nicht sah, aber seine Anwesenheit spürte. Musik wurde durch ihn so lebendig. Das habe ich mitgenommen. Und mein Lehrer war ein exzellenter Weinkenner.

Die Kantorei Oberkassel unter Thorsten Göbel beim Festgottesdienst 100 Jahre Auferstehungskirche im Mai 2014.Foto: Privat

Im Vorgespräch nannten Sie die Passionsfestspiele Tullins in Verbindung mit Mahlers 1. Sinfonie. Welche Bedeutung hatte dieses Erlebnis für Ihre musikalische Entwicklung?

In Tullins (Gegend von Grenoble) war ich Assistent des Chordirektors bei den Passionsfestspielen. Für mich zählt die Passionsgeschichte zu den spannendsten, ergreifendsten, packendsten, blutrünstigsten und zu Herzen gehenden Geschichten überhaupt, die musikalisch darzustellen ich niemals müde werde. In Tullins wurden die Kreuzwegstationen mit Gustav Mahlers 1. Sinfonie untermalt. Ich gehörte damals bei der Inszenierung zum Fußvolk und wurde regelrecht „umgehauen“ von der hochemotionalen Musik Mahlers. Seine Tonsprache, Klangfortschreitungen, Farbwechsel und Orchestrierungen haben mich zu tiefst bewegt. Eine unglaublich körperliche Erfahrung, die ich übrigens am Anfang von Mahlers 9. Sinfonie während der Probe von James Levine und den Münchner Symphonikern in meiner Studienzeit noch einmal so intensiv erlebt hatte.

Mit 21 Jahren konvertierten Sie zum evangelischen Glauben. Können sie diesen Wechsel auch kirchenmusikalisch erklären?

Für mich war es immer klar, evangelischer Kirchenmusiker zu werden. Obwohl katholisch getauft und erzogen, machte ich meine ersten musikpraktischen Gehversuche in der evangelischen Kirche. Und ich erkenne mich in diesem Arbeitsprofil wieder. Meine katholischen Wurzeln weiß ich zu schätzen und bewahre sie im Herzen. Gleichzeitig lebe ich ganz bewusst und aus voller Überzeugung im weitesten Sinn nach Luther. Der Rheinländer sagt dazu vielleicht: „Jeder Jeck ist anders.“ Heute bin ich im Landtag der konfessionelle „Liberospieler“ und begleite beide Andachten – die katholische und die evangelische. Eine Abgeordnete sagt immer zu mir, wenn sie mich sieht: „Heute spielt wieder das evangelische Klavier“! Für meine Arbeit als Kirchenmusiker habe ich stets die Plastik von Ernst Barlach vor Augen: „Singender Kantor“, der mit den Füßen auf dem Boden der Kirche fest verankert steht und dabei schaut, dass die Tür zur Welt nicht zufällt. Ich öffne mit meiner Arbeit Freiräume und bringe den Glauben zu den Menschen – auf musikalische Weise.

Wie erleben Sie Ihre Arbeit als Kantor an der Oberkasseler Auferstehungskirche?

Für beide Seiten war mein Start im Juli 2002 in Oberkassel offensichtlich eine glückliche Fügung. Der gesamte Aufgabenbereich, der ja zuvor Jahrzehnte lang von zwei voneinander unabhängigen Kantoren ausgeführt wurde, lag nun ausschließlich in meiner Hand. Es war eine Umbruchszeit, in der auch der Einbau der neuen EUROPA-ORGEL „Felix Mendelssohn“ fiel. Dieser Orgelneubau gab meiner Arbeit gewaltigen Auftrieb und (letzten Endes) eine beglückende Resonanz. Gleichzeitig erfahren alle Choristen ob Groß oder Klein die Entfaltung und Stärkung ihres sängerischen und instrumentalen Selbstbewusstseins. Menschen brauchen Kontinuität, Verlässlichkeiten und ein besonderes persönliches Lebensgefühl, das sie hier beim Singen und Musizieren erfahren können. Kirchenmusik ist Verkündigung und bereichert den Menschen mit Lebensqualität – sie vermittelt unmittelbare Freude, Wohlvergnügen und Andacht. Mittlerweile gibt es in der Gemeinde sieben Chöre und einen Posaunenchor. Einen Orgelkonzert-Zyklus habe ich ins Leben gerufen und einen anderen weiterentwickelt. Wir erleben ein reges Konzertleben im linksrheinischen Teil unserer Landeshauptstadt, teilweise mit Gastsolisten u.a. von der Deutschen Oper am Rhein und der Philharmonie Düsseldorf. Und nicht zu vergessen: Wir freuen uns Sonntag für Sonntag an einer lebendigen Gottesdienst-Musik.

„Schola – der Tageschor“ beim Besuch einer ehemaligen Choristin.Foto: Privat

Es fällt angenehm auf, dass die von Ihrer Kirchengemeinde produzierten und verbreiteten Medien (Broschüren usw.) einen professionellen Eindruck machen.

Kirche soll sich – in allen Bereichen – professionell nach außen darstellen. Im Konzert- und Gottesdiensterlebnis strahlen Liebe, Herzblut und persönliche Hingabe beim Singen im Chor und stecken den Zuhörer emotional an. Und das, was ich den Menschen in die Hand gebe, um über meine Arbeit zu informieren, muss professionell und perfekt aufgebaut sein. Unsere Konzerte erfreuen sich einer hohen Auslastung. In meiner Gemeinde herrscht ein unerschütterlicher Geist des konstruktiven Zusammenwirkens verschiedenster Persönlichkeiten und Institutionen an den beiden Zentren Auferstehungskirche und Philippus-Kirche wie drei Pfarrdienste, Presbyterium, Gemeindebüro, Orgelcafé, Förderverein, Diakonie, Kinder- und Jugendarbeit.

Seit 2008 begleiten Sie als „Landtagsorganist“ die monatlich stattfindenden Morgenandachten.

Welche Bedeutung hat diese Arbeit für Sie?

Diese zusätzliche Arbeit ist sicher ungewöhnlich, und es gibt in Deutschland sehr wenige Landtage, in denen regelmäßig Gottesdienste gefeiert werden. Dieser Dienst ergab sich aus einer Anfrage des Landeskirchenmusikdirektors, der ich sehr gerne gefolgt bin. Die Andachten unmittelbar vor der Plenarsitzung gab es auch schon vorher, nur ohne Organisten. Meine kirchenmusikalische Praxis habe ich nie als eine lokal begrenzte Arbeit angesehen. Meine Aufgabe endet nicht am Rheindeich, denn ich bin Kantor durch und durch, egal ob links- oder rechtsrheinisch. Die Andachtsteilnehmer – gerade auch Abgeordnete, Landtagsmitarbeiter und Besucher – möchten explizit eine Botschaft mitnehmen als stärkenden Impuls für ihren Alltag. Dazu gehören auch besondere Chor- und Orchesterkonzerte in der Bürgerhalle des Landtags in der Vorweihnachtszeit oder wie jetzt am 26. März ein Chorkonzert der Kantorei Oberkassel zur Passionszeit mit Werken von Bach und Purcell in der Wandelhalle vor Günther Ueckers „Interferenzen“. Auch in einem solchen Konzert und seiner Inszenierung sehe ich die Möglichkeit, Zuhörer und Mitwirkende zu ihren Glaubensursprüngen zu führen, so dass sich jeder fragen kann, wie es mit seiner eigenen Religiosität bestellt ist. Auch hier hat Kirchenmusik ihren Sitz im Leben. Dasselbe Programm werden wir außerdem am 21. März in der Tersteegenkirche und am 22. März in der Oberkasseler Auferstehungskirche aufführen.

Welche musikalischen Wünsche oder Visionen haben Sie an die Zukunft?

Mit der Kantorei Oberkassel werde ich weiterhin die Auferstehungskirche als Düsseldorfs besonderen Standort zur Pflege des gesamten Werkes von Johann Sebastian Bach weiter ausbauen. Dabei und dadurch wird sich unsere Kantorei selbstverständlich weiter entwickeln. Auch wir wachsen mit und an unseren Aufgaben. So ist 2016 eine Tangomesse geplant und 2017 im Lutherjahr ein Jazz-Oratorium aus den legendären 1920er Jahren. Die „Schola - der Tageschor“ ist nicht nur etwas für Ausgeschlafene. Diese aktive Seniorenkantorei probt mittwochs von 11 bis 12 Uhr und hat sich einen schönen Klang ersungen. Eine tolle Truppe! Ich möchte außerdem meinen persönlichen Kontakt zur Gemeinde verstärken. Dafür stelle ich mir einen freistehenden Spieltisch unten im Kirchenschiff der Auferstehungskirche vor, von dem aus ich die EUROPA-ORGEL spielen kann. So kann ich besser mit der Gemeinde singen, sie motivieren, Kontakt halten. Und einem Organisten bei der Arbeit zuzusehen, ist ja auch etwas Besonderes. Für dieses Spieltischprojekt brauche ich noch Unterstützer!

Ich fühle mich sehr wohl hier und: Gott fügt!

Das sind alles gute Bedingungen.

Dem Himmel zugewandt – unge­wohnter Aufblick senkrecht nach oben: „Orgelprospekt“ der Auferstehungskirche.Foto: Privat

Das Gespräch führte
Prof. Dr. Hartwig Frankenberg