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„Musik im Gespräch!“(03/04 2017)

Michael Rische: „Dialog mit dem Klavier…“

Michael Rische: „Dialog mit dem Klavier…“

Der Pianist Michael Rische als Gast bei „Musik im Gespräch!“ am 31.01.2017 in der Düsseldorfer Musikbibliothek.Foto: Elmar Schwarze, Berlin

Michael Rische erhielt seine Ausbildung bei Max Martin Stein (Klavier) und Milko Kelemen (Komposition) an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Die Zusammenarbeit mit namhaften Dirigenten wie Sylvain Cambreling, Yuri Simonow, Grant Llewellyn, Michael Boder, Wayne Marshall und Orchestern wie der Staatskapelle Berlin, dem WDR Sinfonieorchester Köln, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem Orchestre National de Belgique, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, den Bamberger Symphonikern und dem BBC Symphony Orchestra London hat ihm die Konzertsäle in Europa, Israel, den USA und China geöffnet. Spätestens seit Entdeckung der Klavierkonzerte von Carl Philipp Emanuel Bach steht sein Name für Erneuerung - und das in doppelter Bedeutung: Zum einen für die Bereicherung des Musiklebens durch die Entdeckung unbekannter Meisterwerke, zum anderen für neue Konzepte der auf die Gegenwart bezogenen Interpretation (z.B. Kadenzen) der Standardliteratur. So hat Michael Rische mit der Aufspürung der Klavierkonzerte von Erwin Schulhoff und George Antheil der Musik der 1920er Jahre, in der sich Klassik und Jazz begegnen, wieder zu ihrem Recht verholfen. Michael Rische lehrt als Professor an den Musikhochschulen in Köln und Leipzig. Drei Fernseh-Dokumentationen hat der große Filmregisseur Alexander Kluge seiner Arbeit gewidmet: Die Themen waren „George Antheil“, „Wahl der Kadenzen“ und “C.P.E. Bach“.

Da es Michael Rische wichtig war, im Rahmen des Interviews am 31.01.2017 als musikalische Zwischenstücke fast ausschließlich Klavierwerke mit Orchesterbegleitung zur Anschauung zu bringen, präsentierte er folgende Werk-Ausschnitte mit von ihm eingespielter CDs:

Erwin Schulhoff: Etüden 4 und 5 aus: 5 Jazz-Etüden (1926)

Carl Philipp Emanuel Bach: Konzert für Klavier und Orchester, C-Dur Wq 20, 2. Satz Adagio ma non troppo

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 3 c-moll op. 37, 1. Satz Allegro con brio (Kadenz: Ch. V. Alkan)

Maurice Ravel: Alborada del gracioso für Klavier solo, aus Miroirs (1905)

Carl Philipp Emanuel Bach: Konzert für Klavier und Orchester, d-moll Wq 22, 3. Satz Allegro di molto

Labels: Sony, EMI, Universal, Hänssler Classics

Können Sie sich an Ihre erste Begegnung mit der Musik erinnern?

Mein Vater besaß eine riesige Sammlung an Schallplatten, so dass ich schon sehr früh in den Genuss kam, vieles - vielleicht sogar das meiste - davon zu hören. In weit zurück liegender Ferne erinnere ich mich an zwei Werke, die mich seither mein Leben lang begleitet haben. Es sind für mich erste, unauslöschliche Höreindrücke: Claude Debussy „Prélude à l'après-midi d'un faune“ (1894) und Igor Strawinsky „Petruschka“ (1911).

Wie hat sich das Interesse und die Faszination für Musik bei Ihnen dann fortgesetzt?

Die erwähnte Anregung durch die beiden großen Komponisten kann bei einem jungen Menschen automatisch zu dem Wunsch führen, so etwas doch vielleicht auch einmal selbst zu schreiben. Über das Experimentieren auf den Klaviertasten macht man so die ersten Beobachtungen, was zusammen klingt und was nicht. Ohne Klavierunterricht hatte ich mich dann schon einige Jahre mit dem Instrument gut unterhalten. Mein Vater förderte und begleitete mich wohlwollend bei diesen ersten Versuchen - meinte aber, es sei sehr wichtig, als Komponist wenigstens ein Musikinstrument perfekt zu spielen und zu beherrschen. Und so bin ich eigentlich immer noch damit beschäftigt, das Instrument Klavier in den Griff zu kriegen.

Das ist ja eine sehr schöne Formulierung, dass Sie sich mit dem Klavier schon sehr früh „unterhalten“ haben, wie Sie gerade sagten. Ist das Musikinstrument für Sie so etwas wie ein Partner, gar wie ein Subjekt?

Ja, man gibt etwas und bekommt etwas zurück - ein Prozess, der sich im Laufe der Zeit intensiviert.

Wie haben Sie Ihr Musik-Studium erlebt?

Mein Musik-Studium verlief nicht geradlinig. Durch die Bekanntschaft mit dem Komponisten Jürg Baur erhielt ich die Möglichkeit, als Jungstudent meine ersten Erfahrungen in Sachen Musik an der Robert Schumann Hochschule zu sammeln. Lange Zeit studierte ich dann Klavier bei Max Martin Stein.

Was verbindet Sie mit der Neuen Musik in Düsseldorf?

Wenn man hier in der Stadt Komposition studiert, ist man automatisch ein Mitglied der Gruppierung „Neue Musik“. Durch den Kompositionsunterricht bei Milko Kelemen war ich natürlich mit einer ganzen Reihe von Komponisten in Verbindung gekommen, zu denen auch Musiker wie Oskar Gottlieb Blarr gehörten. Es war eine Szene, in der in Düsseldorf eine Menge zeitgenössischer Musik angeboten wurde. Internationale Beachtung fanden dann z.B. die Messiaen-Feste, die Oskar Gottlieb Blarr zusammen mit Almut Rößler organisierte.

Hat Olivier Messiaen an diesen Festen persönlich teilgenommen?

Messiaen war bei jedem dieser Feste zugegen. Den aller stärksten Konzerteindruck hatte ich 1972, als Messiaen zusammen mit seiner Frau Yvonne Loriod in der Johanneskirche die „Visions de l'Amen“ für zwei Klaviere spielte, einem Werk von 45 Minuten Dauer. Ich habe nie wieder - von Horowitz bis Bernstein - einen solchen Applaus gehört wie hier: 45 Minuten lange dauernde, nicht zu bremsende Begeisterung! Da stand für mich fest: Das Stück muss ich auch spielen! Das kostete mich - zusammen mit meinem Partner Udo Falkner - zwei Jahre Arbeit. Das Werk haben wir dann auch beim Messiaen-Fest 1979 gespielt.

Michael Rische am Klavier: Szenen aus der TV-Dokumentation von Alexander Kluge, Juni 2015.Foto: A. Kluge / dctp.tv

Woran können Sie sich bei „Neue Musik in Düsseldorf“ noch erinnern?

In diesem Zusammenhang möchte ich die Verbindung zu Mark-Andreas Schlingensiepen erwähnen, lange bevor er sein „notabu.ensemble neue musik“ gegründet hatte. Auch erinnere ich mich an das erste und einzige „Erwin Schulhoff Festival“, das der damalige Intendant der Tonhalle Freimut Richter-Hansen 1994 - zusammen mit dem WDR - auf das Vorzüglichste gefördert und ausgerichtet hatte. Erwähnen möchte ich auch eine Ausstellung in der Kunsthalle am Grabbeplatz mit dem Titel „Sehen um zu hören!“ Es handelte sich um rein „grafische“ Partituren wie jene von Sylvano Bussotti, welche von den Musikern sehr assoziative Interpretationen verlangten. In dieser Ausstellung trat auch die Fluxus-Cellistin Charlotte Moorman auf, die zusammen mit Nam June Paik ein Konzert geben sollte. Paik war jedoch kurzfristig verhindert, so dass die überraschende Anfrage am Tage des Konzertes zu mir kam. Ich hatte ein wenig Erfahrung bei der Interpretation von grafischer Notation. Bei der Probe und dann beim Konzert verstand ich mich mit Frau Moorman jedoch sehr gut, so dass das Konzert ein voller Erfolg wurde - Joseph Beuys saß neben anderen Künstlerpersönlichkeiten in der ersten Reihe und applaudierte ausgesprochen herzlich.

Sie haben für etliche Klavierkonzerte - Carl Philipp Emanuel Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven - neue Kadenzen geschrieben, bzw. die überlieferten Kadenzen untersucht. Was versteht man, was verstehen Sie unter einer „Kadenz“?

Seit dem 5. Brandenburgischen Konzert in D-Dur (BWV 1050) von Johann Sebastian Bach wissen wir, dass die Kadenz am Ende des ersten Satzes eines Konzertes dem Solisten die Möglichkeit gibt, die thematischen Geschehnisse eines Werkes auf virtuose Weise zusammenzufassen - oder wenn man so will, auch neu zu verarbeiten. Die damaligen pianistischen Größen wie Carl Philipp Emanuel Bach und Ludwig van Beethoven waren auch als Improvisatoren berühmt und haben solche Partien gewissermaßen aus dem Handgelenk geschüttelt. In der Romantik wurde von dieser Freiheit kaum mehr Gebrauch gemacht. Die Kadenz als großes Solo reizt die Solisten auf jeden Fall, was von der substantiellen Aussage bis zur dekorativen Girlande reicht.

Können Sie ein prägnantes Beispiel für eine Kadenz nennen?

Als Beispiel für unterschiedliche Kadenzen erwähne ich das Klavierkonzert Nr. 3 in c-moll op. 37 von Ludwig van Beethoven, das ich zusammen mit dem Deutschen Symphonie Orchester (DSO) Berlin mit dem Dirigenten Marcus Bosch für Sony (2007) eingespielt habe. Es gibt in der ganzen Klavierliteratur kein einziges Klavierkonzert, das dermaßen viele Kadenzen unterschiedlichster Pianisten und Komponisten nach sich zog: über 30 Stück - Beethovens eigene selbstverständlich an erster Stelle. Praktisch jede Musikergeneration nach Beethoven hat dem Meister - bis in die Gegenwart - die Ehre erwiesen. Nebenbei ist dies auch ein klarer Beweis dafür, wie lebendig diese Musik bis heute geblieben ist. Vor einigen Jahren fragte ich den vor einem Jahr verstorbenen Pierre Boulez persönlich, ob er sich vorstellen könnte, für besagtes Beethoven-Konzert eine Kadenz zu schreiben. Er reagierte höflich-verblüfft und meinte: „Das können andere besser als ich!“

Der Hörer kann zwischen 6 verschiedenen Kadenzen entscheiden!

Die Aufnahme, von der ich hier spreche, bietet insgesamt 6 Kadenzen, meine eigene eingeschlossen. Der Hörer kann sich dabei für die Kadenz seiner Wahl entscheiden, ich biete ihm auf diese Weise also Raum zur Mitgestaltung. Über die Programmtaste jedes CD-Players sind sechs verschiedene Kadenzen im 1. Satz anwählbar: Neben Beethovens eigener finden wir Beiträge von Moscheles/Brahms, Alkan, Schulhoff, Ullmann und mir. Dabei hatte ich die Möglichkeit, auf einem der größten Flügel der Welt zu spielen, einem Fazioli F308. Heute präsentiere ich Ihnen die Kadenz von Charles Valentin Alkan, dem großen Zeitgenossen von Franz Liszt. Diese Kadenz ist nicht nur ein musikalischer Kommentar zum 3. Klavierkonzert von Beethoven, sondern eine Kadenz über „c-moll bei Beethoven“ schlechthin. Sie dauert 8 Minuten, stellt enorme Anforderungen an den Interpreten und entfaltet Bezüge auch zu anderen Werken von Beethoven.

Konnten Sie über Kadenzen auch in einem Live-Konzert entscheiden lassen?

Im Übrigen habe ich die „Wahl der Kadenzen“ auch erfolgreich im Konzert praktiziert, zuletzt hier in der Düsseldorfer Tonhalle im Dezember 2012. Das Ganze muss man sich so vorstellen: Dem Publikum werden drei Kadenzen angeboten. Die erste von Beethoven wird immer gespielt und kennt jeder, die zweite von Mozarts Sohn Xaver kennt niemand, und die dritte - meine eigene - ist auch unbekannt, wird aber vom Interpreten selbst vorgetragen. Christian Ehring hatte das Konzert damals kurzweilig, pointenreich moderiert und das Publikum zur Wahl per Handzeichen aufgefordert. Ich habe mich über die Neugier des Publikums sehr gefreut, denn es hat sich für meine Kadenz entschieden! Diese vielleicht einminütige Aktion hat sehr zu der besonderen Atmosphäre dieses Konzertes beigetragen.

Sie haben vergessene Klavierkonzerte von Erwin Schulhoff und George Antheil entdeckt - und deren Beziehung zum Jazz herausgestellt. Was ist das Besondere an diesen Werken?

Seit den ersten Kammermusikfesten in Lockenhaus (Österreich) waren mir einige wenige Werke von Erwin Schulhoff (1894-1942) bekannt. Aber erst im Laufe der Zeit wurde mir bewusst, welch großartigen Schatz es hier zu entdecken gab. Seine Werke sind im öffentlichen Konzertleben meist unbekannt. Erwin Schulhoff ist Zeitgenosse von Paul Hindemith, wurde in Prag geboren und war Jude, der 1942 in einem KZ starb. Er war Schüler von Max Reger in Leipzig, kannte flüchtig Claude Debussy. Schulhoff war ein ausgezeichneter Pianist. Von seiner polystilistischen Begabung hatte ich mir nach und nach ein Bild machen können. Er kam über die Spätromantik zum Jazz, dann zum Expressionismus und schließlich zum sozialistischen Realismus. Mir war klar: Wer so gut Klavier spielen kann und somit viel über das Klavier weiß, hat bestimmt auch ein Klavierkonzert geschrieben.

Wie wurden Sie auf die Partitur (Handschrift) des Klavierkonzertes von Erwin Schulhoff aufmerksam?

Einer meiner Studenten hatte kurz vor der Wende an einem Kammermusik-Kurs in Prag teilgenommen und dort Interesse an Schulhoff bekundet. Die Folge: Eines Morgens bekam ich das vermutete und gesuchte Klavierkonzert (eine Kopie des Autographs) als Paket und war überglücklich! Dies war mein Einstieg, mich nun intensiv mit der Musik der 1920er Jahre zu befassen. Mein Freund Rainer Peters, damals noch in Düsseldorf, machte mich auf weitere Werke dieser Stilistik von anderen Komponisten aufmerksam, z.B. auf das Concertino von Arthur Honegger - mit dem schönsten Blues (Finale), den es für Klavier und Orchester überhaupt gibt. Auch Aaron Copland schrieb ein (äußerst kompliziertes) Concerto, sehr jazzig und rhythmisch experimentell - ganz klar: Der Sacre von Strawinsky hatte Pate gestanden. Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang außerdem das Concerto in F von George Gershwin und das Concerto in G von Maurice Ravel.

Von welchen weiteren Entdeckungen können Sie berichten?

Aufmerksam wurde ich auch auf den amerikanischen Komponisten George Antheil mit seiner sicher bekanntesten Musik: „Ballett Mécanique“ für 4 Pianisten und 4 Schlagzeuger. Auch er hat sich mit dem Thema „Jazz und Klassik“ mehrfach auseinandergesetzt. Dies war sicher meine langwierigste Entdeckung: Ich benötigte 2 Jahre, bis ich die unveröffentlichte Handschrift in New York fand. Antheil sollte das Werk eigentlich 1923 mit den Berliner Philharmonikern uraufführen, was jedoch eine Krankheit verhinderte. Das Stück wurde nie gespielt. Ich habe es dann 2001 in London zusammen mit dem BBC Symphonieorchester uraufgeführt. So viel zu dem Thema „Jazz-beeinflusste Klavierkonzerte der 1920er Jahre“. Insgesamt sieben dieser Konzerte habe ich ins Repertoire aufgenommen; sie werden in diesen Tagen bei Hänssler Classic als Doppel-CD wieder veröffentlicht.

Wie kann man diese Begegnung Jazz und Klassik verstehen?

Es begann mit Claude Debussy: Der französische Komponist verwendet als Schlusssatz seiner zwischen 1906 und 1908 entstandenen Klaviersuite „Children's Corner“ einen Cakewalk mit dem Titel „Golliwogg's Cake-walk“. Das Stück im Ragtime-Rhythmus parodiert in seinem Mittelteil den Beginn von Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ samt dem musikgeschichtlich bedeutenden „Tristan-Akkord“. Es setzt sich fort bei Maurice Ravel in seiner Sonate für Violine und Klavier mit dem 2. Satz als Blues. Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang auch von Debussy „Le Petit Nègre“ sowie den „Ragtime“ von Strawinsky. Es gab also eine ganze Reihe von Komponisten, welche das rhythmische Potential im Jazz erkannten und verarbeiteten. Jeder Komponist tat dies auf seine ganz unverwechselbare Weise. Auffallend viele Kompositionen sind für Solo-Piano geschrieben. Die Begegnung mit dem Jazz war sehr fruchtbar, was sich so in der Musikgeschichte nicht wiederholt hat.

Sie befassen sich ebenfalls intensiv mit Maurice Ravel und Claude Debussy?

Bei meinen Konzerten gibt es kaum einen Abend, an dem ich nicht auch Kompositionen von Ravel oder Debussy spiele - für mich ein einfach unverzichtbarer Programmpunkt. Für heute Abend habe ich von Ravel die „Alborada del gracioso“ für Klavier solo, aus den Miroirs (1905), ausgewählt. Das „Morgenständchen eines Spaßmachers“ stammt aus der Welt der Gitarre und zitiert deren Spielarten: Doch nicht jedes Klavier erträgt eine Repetitionsgeschwindigkeit von 12 Tönen pro Sekunde.

Michael Rische: Spätestens seit Entdeckung der Klavierkonzerte von C.P.E. Bach steht sein Name für Erneuerung: Entdeckung unbekannter Meisterwerke sowie Entwicklung neuer Interpretations-Konzepte (Kadenzen).Foto: A. Kluge / dctp.tv

Und schließlich darf bei Ihnen auch Carl Philipp Emanuel Bach nicht fehlen! Wie sind Sie eigentlich auf ihn aufmerksam geworden?

Irgendwann im Laufe des Studiums wird jeder Instrumentalmusiker mit der Frage konfrontiert, welches Solokonzert er als erstes erarbeitet. In einer alten Mono-Aufnahme besaß ich damals das einzig erhältliche und bekannte Klavierkonzert von Carl Philipp Emanuel Bach, nämlich das Konzert für Klavier und Orchester, d-moll Wq 23. Von diesem Werk - es ist für Klavier und Streichorchester geschrieben - war ich ganz gefangen. Man könnte meinen, dass Carl Philipp Emanuel die Gattung „Klavierkonzert“ von seinem Vater übernommen hätte, was aber so nicht stimmt. Richtig ist vielmehr, daß Johann Sebastian Bach sein großes d-moll-Konzert (BWV 1052) und sein Sohn Carl Philipp Emanuel (mit 18 Jahren) sein 1. Klavierkonzert (a-moll Wq 1) im selben Jahr (1738) geschrieben haben.

Welchen Eindruck haben Sie von diesem Werk des Sohnes (Wq 23) gegenüber der Musikwelt von Bach-Vater?

Ich kann nur meinen Hut ziehen vor diesem Jugendwerk mit seinem ungebrochenen Temperament, seinem unbedingten Willen zur Expression in puncto Klang, Melodik und Stimmführung. Als ich dieses Stück viele Jahre nach meinem Studium wieder einmal spielen wollte, fiel mir auf, dass es in der einzigen Ausgabe gewisse Unstimmigkeiten gab. Dies veranlasste mich, die Handschrift in der Berliner Staatsbibliothek einzusehen. Dabei bekam ich eine Ahnung davon, welche große Werkreihe der Bach-Sohn geschaffen hat.

Konnten Sie weitere vergessene Werke von C.P.E. Bach entdecken?

Bei dieser Gelegenheit entdeckte ich weitere seiner wunderbaren Klavierkonzerte, die damals noch nicht bekannt und auch nicht veröffentlicht waren. Man muss sich das einmal vorstellen: Schließlich ist der Name Bach in der musikalischen Welt ja nicht unbekannt. Aber dennoch: Bei den Klavierkonzerten von Carl Philipp Emanuel gab es bis auf ganze drei Konzerte keinerlei Aufführungsmaterial! Dabei hat er sich an dieser Gattung wirklich berauscht! Von seinem 18. Lebensjahr bis zu seinem Lebensende hat er immer wieder Klavierkonzerte geschrieben - und zwar immer nur für sich selbst! Darunter ist kein einziges Auftragswerk wie bei vielen anderen auch bekannten Komponisten. In seinem erfüllten Leben hat Carl Philipp Emanuel Bach 52 Klavierkonzerte komponiert. Der „Materialnotstand“ lässt sich auch aus der Tatsache erklären, dass er an einer Bekanntmachung durch Druck und Verlag nicht interessiert war, weil er diese Werke nur selbst persönlich spielen wollte. Er hat sie bewusst unter Verschluss gehalten.

Dann dürfte es für eine Gesamtausgabe sicher noch eine Weile dauern?

Seit einigen Jahren erscheint als Work in Progress eine Gesamtausgabe seiner Werke an der Harvard University USA. Warum dort? Einer der beiden Inhaber des Computerherstellers Hewlett Packard war als musikalischer Dilettant ein glühender Verehrer von Carl Philipp Emanuel Bach. Er hat seine Stiftung „Packard Humanities Institute“ angewiesen, eine Gesamtausgabe zu erarbeiten. Das wird sicher noch einige Zeit dauern. Ich selbst habe mir immer wieder anhand der Manuskripte mit meinen Mitteln Aufführungsmaterial erstellt. Dadurch bin ich als erster Pianist in der Lage, diese Werke öffentlich zu spielen - jedoch bewusst auf modernen Flügeln.

Warum auf einem Flügel?

Man sollte meinen, dass zu Zeiten Bachs das Cembalo das Instrument der ersten Wahl gewesen sein soll. Carl Philipp Emanuel Bach war mit dem Cembalo nicht recht zufrieden. Er hat sich bei den Tasteninstrumenten nach eigenen Worten wenig für Cembalo und Orgel begeistert, sondern vielmehr für Clavichord (für kleines Publikum) und Hammerflügel (für ein größeres Auditorium) - wegen der außerordentlichen Modulationsmöglichkeiten der beiden Instrumente. So ist es kein Wunder, dass die musikalischen Absichten des Bach-Sohnes in all ihrer dynamischen Vielfalt am besten auf einem modernen Flügel abgebildet werden können. Nikolaus Harnoncourt, der große Entdecker der historischen Aufführungspraxis, hat mich in einem persönlichen Gespräch in meiner Praxis bestärkt und aufgefordert, diese unbedingt beizubehalten!

Michael Rische und Hartwig Frankenberg beim Gespräch in der Musikbibliothek.Foto: Thomas Kalk

Was fasziniert Sie so sehr an der Musik von Carl Philipp Emanuel Bach?

Was mich so überaus begeistert, ist dieser treibende Rhythmus, seine besondere Art, die Expression zu erzeugen - und dies ohne den Kanon der Polyphonie zu verwenden, wie sein Vater. Carl Philipp Emanuel Bach ist der erste Komponist der Epoche, die wir „Aufklärung“ nennen. Er ist der erste Komponist, das erste Subjekt, das Gegenstand der Expression wird - und nicht mehr die „Wahrheiten des Glaubens“, die in den musikalischen Passionen, im „Weihnachtsoratorium“ oder in der „Matthäuspassion“ im Vordergrund stehen. Carl Philipp Emanuel Bach ist der erste der sagt „Ich bin derjenige, der Empfindungen hat, sie ausdrückt und weitergibt!“ Dies tut er mit einer Überzeugungskraft, die einfach überwältigend ist.

Gibt es bei C.P.E. Bach einen Wahnsinn der Tasten?

Wenn wir nun zum Schluss das Finale aus dem Konzert für Klavier und Orchester, d-moll Wq 22, also den 3. Satz Allegro di molto hören, so begegnen wir einem regelrechten Delirium! So etwas hat es vorher in der Musik noch nicht gegeben! Dieser Tempo-Exzess, in den sich Solist und Orchester gegenseitig steigern. Verbunden ist das mit einer ganz neuen Technik, die man sich erst einmal aneignen muss. Es ist eine Art von Virtuosität, auf die dann Mozart und Beethoven zurückgreifen konnten; also kein Zufall, dass zu Zeiten von Haydn, Mozart und Beethoven gerade Carl Philipp Emanuel Bach als der „große Bach“ galt! Er war das Vorbild. Vater Johann Sebastian kam erst wieder durch Felix Mendelssohns Initiative zu seinem Recht.

Wie könnte man Carl Philipp Emanuel Bach als Persönlichkeit charakterisieren?

Carl Philipp Emanuel Bach war ein äußerst gebildeter, sehr breit aufgestellter Geist. Das kann man an zwei Dingen sehen: Als 1781 die Erstausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant erschien, war Bach einer der ersten Subskribenten in Hamburg. Für einen Musiker nicht unbedingt die geläufige Lektüre! Außerdem führte Bach in Hamburg ein Haus der internationalen Begegnungen - absolut vergleichbar mit Goethe in Weimar! Aus allen möglichen Ländern kamen Komponisten zu ihm nach Hamburg, um ihm ihre Werke vorzustellen, um seine Meinung zu hören und auch, um ihn spielen zu hören. Aber es waren nicht nur Musiker, sondern auch Autoren und Autoritäten wie Gotthold Ephraim Lessing, Matthias Claudius, Johann Heinrich Voss - die sich hier zum interdisziplinären Austausch trafen. Aber was Sie jetzt hören, ist wirklich einzigartig!

Was hält die nächste Zeit für Sie bereit? Und was wünschen Sie sich für Ihre weitere Zukunft?

Vier Tage vor diesem Interview ist meine Tournee durch die Niederlande mit sieben Konzerten zu Ende gegangen: Ich habe mit der Philharmonie Zuidnederland unter Jan Willem de Vriend C.P.E. Bach gespielt. Am nächsten Sonntag (05.02.) geht es weiter nach Kiew, wo ich in der dortigen Philharmonie mit den Kammersolisten Kiew unter Kirill Karabits ebenfalls ein Bach-Konzert spiele. Im März 2017 gibt es zwei Direktübertragungen mit Bach aus ARD-Sendern: Am 23.03. um 13:00 Uhr im SWR und am 24.03. um 20:00 Uhr im SR. Beide Male spielt das RSO des Saarländischen Rundfunks unter Paul Goodwin. Im Juni/Juli folgt dann in Berlin die Aufnahme dreier neuer Klavierkonzerte von C.P.E. Bach mit den Berliner Philharmonikern als Berliner Barock Solisten - eine weitere wunderbare Aufgabe! Sie sehen, Wunsch und Wirklichkeit haben sich beträchtlich angenähert, es wäre schön, wenn das noch eine Weile so bliebe.

Weitere Informationen:

Hans Hubert Schieffer, Hermann Josef Müller, Jutta Scholl:

Neue Musik in Düsseldorf seit 1945.

Ein Beitrag zur Musikgeschichte und zum Musikleben der Stadt

Schriftenreihe des Freundeskreises Stadtbüchereien Düsseldorf

(Band 4) Düsseldorf, 1998

(Diese Publikation ist auch in der Musikbibliothek käuflich zu erwerben!)

Das Interview führte
Prof. Dr. Hartwig Frankenberg