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„Musik im Gespräch!“(07/08 2018)

Prof. Dr. Karlheinz Schüffler: „Musik und Mathematik: zwei Welten – eine Seele?“

Prof. Dr. Karlheinz Schüffler: „Musik und Mathematik: zwei Welten – eine Seele?“

Karlheinz Schüffler schwebt zwischen den Welten der Mathematik und der Musik. In ihrer Verbindung sieht er eine kulturhistorische Wissenschaft, die es nicht nur zu bewahren gilt, sondern deren Zusammenspiel sich immer mehr als eine faszinierende Entdeckungsreise beweist.

Professor Dr. Karlheinz Schüffler , 1947 in Trier geboren, wuchs in Perl an der Mosel auf – im Dreiländereck Frankreich, Luxemburg, Deutschland. Obwohl er sich seit Kindheit und Jugend der Musik verbunden fühlte, studierte er Mathematik und Physik an der Universität Saarbrücken und promovierte 1978. Nach seiner Habilitation an der Universität Düsseldorf wirkte er dort als Privatdozent und lehrte von 1987 bis 2015 als Professor für Mathematik an der Hochschule Niederrhein in Krefeld. Seit seiner Jugendzeit spielt er Orgel, erlernte Chorleitung und praktiziert beides seit 1964. Er gab und gibt Orgelkonzerte im In- und Ausland. Aktuell leitet er den Chor der Hochschule Niederrhein und die Schola Gregoriana Krefeld sowie die Kirchenmusik an der Walcker-Orgel der Lutherkirche Krefeld. Er ist außerdem Autor eines populärwissenschaftlichen Buches über Musik und Mathematik – der genaue Titel findet sich am Ende des Interviews!

Aurelia Silvia Bertini ist studierte Chemikerin und spielt seit über 13 Jahren Harfe. Sie wurde von der Harfenistin Susana Feige unterrichtet und wirkte bereits in verschiedenen Jugendorchestern und Ensembleprojekten in ganz NRW mit. Darüber hinaus tritt sie zu verschiedenen Anlässen auch solistisch auf, unter anderem in Kooperation mit dem Chor der Hochschule Niederrhein.


Ebenso gestaltete sie am 29. Mai das musikalische Rahmenprogramm mit folgenden Werken:

Silvia Woods: Dialogue with a Brook

Kim Robertson: Water Spirit

John Thomas: The Minstrels Adieu to His Native Land

Alphonse Hasselmans: Feuilles d‘Automne

Sophia Dussek: Sonate in C-moll

Giovanni Pescetti: Sonate in C-moll: Andantino Expressivo

Alphonse Hasselmans: Marguerite au Rouet


Wann und wie haben Sie die erste Begegnung mit der Musik erlebt?

Ich war etwa sechs, sieben Jahre alt, als ich bemerkte, dass mich Musik fasziniert. Ich komme aus einem einst kleinen und beschaulichen Winzerdörfchen mit katholischer Prägung. Ich lebte unmittelbar hinter der Kirche, in der es eine Orgel gab. Dieses Instrument war nicht nur während der Gottesdienste zu hören, sondern auch zu anderen kirchlichen Anlässen – auch dann, wenn der Organist nur übte – und mir ist die F-Dur Toccata von Bach noch in bester Erinnerung. Das beeindruckte mich dermaßen, so dass in mir der Wunsch reifte, in diesem klanglichen Erlebnisgefüge – ob Orgel oder ein anderes Instrument – irgendwo auch selbst einmal aktiv zu werden.

Wie hat sich Ihr Interesse für die Musik in Ihrer Jugend weiterentwickelt?

Meine Musikausbildung begann in der sehr kargen Nachkriegszeit mit einem Akkordeon. Das Instrument musste eigens aus dem 50 Kilometer entfernten Trier unter abenteuerlichsten Umständen herbeigeschafft werden – das Saarland gehörte nämlich damals (wirtschaftlich) zu Frankreich. Den Unterricht erteilte mir der Dorforganist, der auch eine Akkordeon-Gruppe leitete, zu der ich dann später als Benjamin gehörte. Unterricht und Instrument machten mir Freude. Nach etwa zwei Jahren ergab sich die Möglichkeit, auf das Klavier umzusteigen. In der Nachbarschaft gab es tatsächlich ein betagtes Piano, das mir meine Mutter – sie war die Schneiderin im Dorf – durch ihre Näharbeiten verfügbar machen konnte. Es folgten zwei, drei Jahre Klavierunterricht mit recht gutem Erfolg.

Und wann und wie folgten Orgel und Chormusik?

Als etwa 14-jähriger Schüler eines Aufbaugymnasiums in der saarländischen Mittelstadt Lebach hatte ich Musikunterricht bei einem begnadeten Organisten, Hans Kohn. Sein Unterricht fand im Rahmen eines zwar auslaufenden, aber glücklicherweise gerade noch aktiven Volksschullehrer-Seminars statt. Bei ihm erhielt ich etwa zwei Jahre Orgelunterricht – und im Rahmen dieses Lehrerseminars sogar gratis. Nach Akkordeon, Klavier und Orgel war ich dann schon ein wenig in Richtung Kirchenmusik gepolt. Dazu kam wenig später die Chorleitung in meinem Heimatort, die ich einfach – durch urplötzliche Vakanz – übernehmen musste. Durch praktisches Tun und Lernen eröffnete sich für mich die wunderbare Welt der Chormusik. Im Vordergrund stand hier auch die Gregorianik – besonders unter dem Aspekt der katholischen Liturgie – und natürlich das „übliche“ Kirchenchor-Repertoire.

„Der Satz an dieser Tafel ist falsch“:
Der Satz auf dem Flipchart ist ein Paradox und zeigt, wie schnell man zu Grenzbereichen der Mathematik gelangt, wo diese erst beginnen, spannend zu werden.

Was war Ihnen damals wichtiger: Die Chorleitung oder das Orgelspiel?

Ganz eindeutig war mir die Chorleitung wichtiger! Auf der Orgel war ich inzwischen schon durchaus weit gekommen, konnte etwa auch einen „mittleren“ Bach spielen und hatte schon erste, aber ausgiebige Erfahrungen mit der Liedbegleitung – abgesehen von der Gottesdienstbegleitung, die mir ausgesprochen leichtfiel. Es waren ja mehr oder weniger nicht nur eigenes Talent, sondern auch regelrechte Zufälligkeiten und günstige Konstellationen, die meinen Weg in die Kirchenmusik führten. Als ich etwa sechzehn, siebzehn war – noch Ministrant – klingelte es an einem frühen Sonntag-Morgen um halb 8 Uhr Sturm an unserer Haustür. Ich solle sofort in die Kirche kommen und die Orgel spielen, weil der Organist plötzlich erkrankt sei. Dies war dann der Anfang einer unendlichen Geschichte! Ich hatte zunächst nur mit einer Vertretung für zwei, drei Wochen gerechnet. Aber daraus wurden 10 Jahre! Ich habe also dann in meiner Heimatgemeinde meinen Dienst als Chorleiter und Organist weitergeführt – und unter der Woche meine Schulausbildung im Internat zu Lebach in Richtung Abitur vorangetrieben.

Warum dominierte für Sie damals die Chorleitung?

Die Chorleitung dominierte dabei sehr stark, wofür es mehrere Gründe gab. In der Heimatkirche wurde leider die Orgel mit Pfeifen, wie man sie allgemein kennt, durch eine furchtbare Elektronik-Orgel ersetzt. Das Instrument machte nur Lärm und wahrlich keine Freude! Die Arbeit mit einem Chor mit etwa 40 Sängerinnen und Sängern erforderte hingegen ganz andere Voraussetzungen, Anforderungen und Spannungen als dieses instrumentelle Spielen. Wir haben damals schon sehr anspruchsvolle Chorwerke einstudiert und aufgeführt wie etwa Messen von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594), Orlando di Lasso (1532–1594) sowie etliche Haydn-Messen. Der Umgang mit meist Erwachsenen stellte sich dabei für mich als Jugendlichem natürlich als besonderer Reiz dar. Eine Zeit lang galt ich sogar als jüngster Chorleiter des Bistums! Da fängt man als junger Mensch natürlich Feuer.

Gab es weitere Impulse für Ihre Chorleitung?

Hinzu kam wenig später die Leitung des großen und überregionalen Konzertchors „Cantate Perl“, der sich in dieser Zeit gegründet hatte. Diesen Chor habe ich über 20 Jahre lang geleitet! Es war eine für mich sehr wichtige und prägende Zeit! Diesen Chor habe ich auch dann noch geführt, als ich inzwischen schon längst hier in Düsseldorf war, und diese Stadt zu meinem beruflichen Lebenszentrum geworden war. Aber am Wochenende fuhr ich dennoch regelmäßig in meine alte Heimat, um mit diesem Chor zu arbeiten.

Um nun den wachsenden Aufgaben und Ansprüchen weiter gerecht zu werden – aber auch aus eifrigem Interesse an der Substanz – besuchte ich diverse Kurse für Stimm- und Gehörbildung sowie Dirigierseminare bis hin zu dem renommierten internationalen Meisterkursus in Gent mit Lazlò Heltay, dem letzten noch lebenden Schüler von Zoltan Kodály! Auch wurde ich regelmäßig eingeladener Gast des Deutschen Chorwettbewerbs, wo sich mir vor allem das gigantische Repertoire der Chormusik neu erschloss und mir gleichsam die Augen geöffnet wurden – schließlich waren das ja noch Internet-freie Zeiten. Hier habe ich mich von der Vielfalt der Chormusik regelrecht anzünden lassen! Was allerdings auch noch für meine Einstellung zum Chorwesen besonders bedeutsam war, war die Erfahrung der Begeisterungsfähigkeit so vieler toller, junger Chöre sowie deren faire Kameradschaftlichkeit untereinander – auch in dieser hoch emotionalen Wettbewerbssituation.

Wann erhielt die Orgel für Sie den Stellenwert, den sie heute für Sie hat?

Der Zufall – wieder einmal – wollte es, dass ich durch meine Frau, die ich in einem Chorleiterseminar kennen gelernt hatte, zunächst einmal den Weg in eine evangelische Kirche fand. Sie ist evangelisch und wirkte mit ihrer schönen Stimme u. a. als Sopransängerin. Ein Pfarrer hatte uns nun – ich war inzwischen Mathematik-Professor in Krefeld – bei einem Auftritt erlebt, woraufhin er mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, den Organistendienst gleich am kommenden Sonntag in seiner evangelischen Kirche in Krefeld zu übernehmen. Ich sagte zu, worauf mich in der Folge auch viele weitere Gemeinden um Orgeldienste baten – das war so in den 1990er Jahren.

Als Katholik hatte ich zwar anfangs keine genauere Vorstellung von den Abläufen und Anforderungen in einer evangelischen Gemeinde, aber inzwischen gelte ich beinahe als „Experte“! Seit etwa 25 Jahren bin ich evangelisch vernetzt, zumindest, was die Kirchenmusik betrifft – gleichwohl unter Beibehaltung meiner katholischen Herkunft. Denn – nebenbei bemerkt – kam aber auch die Chorleitung nicht zu kurz: Knapp 15 Jahre leitete ich den Chor an St. Marien, Ratingen-Tiefenbroich – eine überaus wertvolle Zeit. Ich bin also ein engagierter Gratwanderer und Praktiker der Ökumene geworden, sehe nur das Wesentliche des Christentums im Vordergrund und verteidige es, wo ich kann! Ich bin gewissermaßen „gezwungen“ worden, wieder Orgel zu spielen und mich auch mit der (Noten)Literatur zu befassen und mein bisheriges Repertoire zu erweitern.

Ergaben sich vielleicht auch schon erste Verbindungen zwischen der Musik und Ihrer Hochschultätigkeit?

Auf diese Art und Weise wurde ich als Organist, der gleichzeitig Mathematikprofessor ist, auch bekannter. So hatte sich etwa in dem großen Verband der Deutschen Mathematiker (DMV) meine Existenz als Organist herumgesprochen, so dass ich immer wieder darum gebeten wurde, anlässlich und im Rahmen von Fachkongressen (in Rostock, Erlangen, Freiberg, Poznan (Polen) und anderen Städten) Orgelkonzerte zu geben. Das hatte u. a. den Vorteil, auch auf seltenen und berühmten Orgeln zu spielen – z. B. auf der berühmten Silbermann-Orgel in Freiberg oder auch der Ladegast-Orgel in Poznan.

Aurelia Silvia Bertini spielte auf ihrer Harfe Werke von Silvia Woods, Kim Robertson, John Thomas, Alphonse Hasselmans, Sophia Dussek und Giovanni Pescetti.

Wie entwickelte ich Ihr spezielles Projekt mit der Lutherkirche in Krefeld?

Entscheidend kam nun zu Beginn dieses Jahrhunderts eine spezielle Aufgabe hinzu: In der Lutherkirche Krefeld gab es eine historisch wertvolle Orgel aus dem Jahre 1904 – und zwar eine rein pneumatische Orgel der seinerzeit sehr bekannten Orgelbaudynastie E. F. Walcker (II/30). Das Instrument war über mehrere Jahrzehnte defekt gewesen. Es gründete sich nun ein Verein, der die originale Restaurierung der typisch romantischen Orgel anstrebte. Beinahe von Beginn an leitete ich diesen Verein und bin bis heute dessen Vorsitzender.

Es waren gut eine Viertel Million Euro aufzubringen, was unter Federführung des Fördervereins tatsächlich gelang. Und so konnte mittels der Firma Scheffler (bei Frankfurt/Oder) im Jahre 2010 die restaurierte Orgel von sich reden machen. Seither verfügt die Lutherkirche wieder über eine wunderbare Konzertorgel! Es finden dort – neben besonderen Gottesdienstformen – etliche Konzertreihen statt mit vielen prominenten Gast-Organisten; dabei lerne ich selbst stetig weiter – sowohl als Orgelspieler wie auch als „Orgelfachmann“. Schließlich bedarf die nicht unempfindliche „Orgeldame“ fürsorglicher Beachtung und Pflege. Nicht vergessen sollte ich auch die prägende Zeit in der Alten Kirche in Krefeld: An der neuen großen 3-manualigen Orgel von Vleugels leistete ich von Beginn im Jahre 2004 bis gegen 2016 kommissarisch und ehrenamtlich die künstlerische kirchenmusikalische Betreuung. Zahlreiche eigene Matineen und Konzerte dienten dabei der eigenen Entwicklung und Reifung in ungewöhnlicher Intensität.

Welche Chöre leiten Sie heute, und was sind die Schwerpunkte Ihrer chorischen Arbeit; könnten Sie sich dabei die Leitung fremder Chöre vorstellen?

Es sind dies die beiden Chöre „Chor der Hochschule Niederrhein“ sowie die „Schola Gregoriana, Krefeld“. Das Repertoire des Hochschulchores speist sich unzweifelhaft aus meinen Erfahrungen bei den Deutschen Chorwettbewerben; hierzu gehört die skandinavische Moderne ebenso dazu wie entlegene Perlen der europäischen Renaissance oder zeitgenössische sakrale Chorwerke. Die Gregorianik bette ich in Konzerte liturgischen Bezugs und zusammen mit passender Orgelliteratur ein.

Zu meiner methodischen Arbeit: Vielleicht bringt es mein professoraler Beruf mit sich, dass ich alles erklären will; jedenfalls versuche ich stets sowohl mir selbst – aber auch dem Chor gegenüber – zu ergründen, warum und wieso dies oder jenes nicht klappt, oder wie man den Klang „schön“ hinkriegt. So arbeite ich darauf zu, durch Analogien und Ähnliches kritische musikalische Passagen dem Chor spannend wie auch durchsichtiger zu machen. Hierbei dient mir meine eigene Sichtweise der harmonischen Brücken und ihrer Funktionalität; konkret erarbeite ich im Chor dann mittels passender Gehörbildung diese Funktionalität in klangliche Harmonik. Ja – eine Leitung fremder Chöre fände ich spannend, auch wenn es „nur“ im Rahmen einer vielleicht seminaristischen Exkursion wäre.

Gibt es ein spezielles Grundverständnis über das Singen im Chor, das Sie Ihren Choristen vermitteln?

Ich vermittle also die Erkenntnis, dass chorisches Singen unter anderem zwei (!) Wesenszüge hat: die eigene Linie des melodischen Materials und – und das ist sehr wichtig: die ständige vertikale – also harmonisch-funktionale und mit Zielpunkten versehene – Sicht des Notentextes. Die Trivial-Chorprobe der stupiden Dressur des schrittweisen Durchprobens jeder einzelnen Stimme – bei gleichzeitigem Tiefschlaf aller anderen Stimmen – ist mir ein Gräuel! Man glaubt gar nicht, welche Erfolge tatsächlich möglich sind, wenn durch geschicktes Zusammenführen geeigneter Stimmen die melodiöse Harmonik eines Werkes erschlossen wird! Und obendrein hat jeder Chorist das erfreuliche Gefühl, auch verstanden zu haben, was, wie und warum so gesungen wird.

Was die Gregorianik betrifft, so hat hier zwar die übliche „Harmonia“ ausgedient – gleichwohl kann man aber auch den Gesang und seine Qualität steuern: So nutze ich zum einen begleitend die „Semiotik“ (die Lehre der gregorianischen Neumenschrift) und ihre Interpretationen – und zum anderen eine schrittweise Einarbeitung der Schola in die kirchentonalen Strukturen. Ein Beispiel: Werden „Finalis“ und „Tenor“ einer gregorianischen Komposition erkannt und im Auge – besser: im Ohr – behalten, so lassen sich viel besser und sicherer gesangliche Linien ausführen als ein haltloses Aneinandersetzen von Tonintervall an Tonintervall.

Warum haben Sie das Fach „Mathematik“ studiert und wie verlief Ihre mathematische „Laufbahn“?

Ich bin sehr froh und dankbar, dass ich für mich dieses Fach Mathematik gefunden und studiert habe. Mit diesem Fach – nicht zuletzt auch in Verbindung mit der Musik – habe ich für mich beruflich und persönlich eine große Sinnerfüllung erfahren dürfen. Warum also Mathematik? Sicher: Als Schüler hatte ich in diesem Fach fast immer die (damals nicht selbstverständliche) „Eins“! Dabei unterstützte mich meine frühere, gestrenge Mathematiklehrerin. Ihr war es gelungen, mich für die damalige Schul-Mathematik einzufangen. Wobei man dennoch sagen muss, dass diese Mathematik – als bloße Rechen-Mathematik – fast nichts mit der später folgenden wissenschaftlichen Hochschul-Mathematik zu tun hat, was ich damals aber noch nicht wissen konnte.

Die Entscheidung für Mathematik und Physik hatte auch damit zu tun, dass ich mich mit dem Gedanken trug, eventuell einmal den Beruf des Lehrers – etwa an einer Volks-, Grund- oder Realschule zu ergreifen. Hinsichtlich der Musik als möglichem Studienfach hatte ich außerdem den Eindruck, trotz allen Geschicks an den Instrumenten vielleicht doch nicht den damaligen Anforderungen einer Aufnahmeprüfung an Hochschulen zu genügen. Ich habe mich bei der Entscheidung für ein Studienfach einfach für meine Neugier, insbesondere gegenüber der Mathematik, leiten lassen. Diesen Schritt habe ich niemals bedauert – auch wenn es zu Beginn des Studiums einige Zeit dauerte, bis ich mich in der wissenschaftlichen Mathematik wohlfühlte.

Wie haben Sie den Zugang zur wissenschaftlichen Mathematik gefunden?

Ich habe dann schon bald das Staatsexamen als Studienziel angesteuert. Parallel dazu konnte ich auch das Diplom als Abschluss erwerben, weil hier die mathematische Forschung im Vordergrund stand, was mich sehr interessierte. Dies führte dann 1978 weiter zur Promotion an der Universität Saarbrücken bis hin zur Habilitation im Jahre 1985 hier an der Universität Düsseldorf. Beides darf aber keinesfalls mit der finanziellen Absicherung eines Berufes verwechselt werden! Stattdessen ist man zwar Fachmann in einsamer Höhe, aber auf die vage Existenz mit Zeitverträgen angewiesen.

Das Risiko, trotz Erreichens fachlich renommierter Ziele, ein beruflich und finanziell geordnetes Terrain am Ende doch nicht gewonnen zu haben, ist enorm und macht diese Zeit so echt spannend. Die anschließende Professur am Fachbereich Maschinenbau ++xx++ Verfahrenstechnik der Hochschule Niederrhein in Krefeld war aber dann der gesicherte Start in eine Phase äußerst anspruchsvoller akademischer Aufgaben: So sind es ganz gewiss zweierlei Dinge, ob man nämlich mathematik-beseelte Freaks in universitären Forschungs- und Lehr-Instituten in die Welt der Gleichungen führt oder ob man praxisorientierte Ingenieure für die nicht minder anspruchsvolle Vielfalt notwendiger mathematischer Verfahren begeistert und somit zum Erfolg führt.

Was ist für Sie „Mathematik“?

Keine einfache Frage – und um eine eindeutige und unmissverständliche Vorstellung hierüber zu geben, zitiere ich, was mir nach einem langen von der Mathematik begleiteten Lebensweg am deutlichsten erscheint:

Mathematik ist nicht die Wissenschaft des Rechnens – sondern die Wissenschaft des Verstehens!

Für mich steht ganz klar fest, dass die Mathematik eine „schöne“ Disziplin ist – jedenfalls dann, wenn man sie weit über ihre Rechenhorizonte versteht und betreiben kann! Wenn wir die Geschichte der Kultur verfolgen, dann gab es das sogenannte Trivium (mit den sprachlichen Disziplinen Grammatik, Dialektik, Rhetorik) und das Quadrivium (mit den mathematischen Disziplinen Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik). Dies kann durchaus als ein wesentlicher Grund dazu angesehen werden, dass Mathematik in beinahe allem steckt und sich in fast allen Lebens- und Arbeitsbereichen verbirgt. Dabei ist es gelegentlich auch möglich, schon unvermittelt in ihre anspruchsvolle Komplexität vorzustoßen; machen wir ein Beispiel:

In der Mathematik ist doch alles angeblich entweder wahr oder falsch. Wenn ich jetzt die Aussage „Der Satz auf dieser Tafel ist falsch!“ auf diese leere Tafel (das Flipchart) schreibe, so ist doch die Frage: Ist nun dieser dort hingeschriebene Satz wahr oder falsch? Ist er wahr, so ist er ja nach eigener Aussage falsch, ist er falsch, so ist er genau nach dem Wortlaut wahr.

Was also? Das ist eine wundersame Paradoxie und zeigt, wie schnell man zu Grenzbereichen der Mathematik gelangt, wo diese erst beginnen, interessant zu werden. Wenn man sich darauf einlässt, agiert man – in diesem Beispiel – auf einer sehr hohen Ebene der Logik und befindet sich auf einmal in einem sehr komplizierten Gebiet der Verschränkung von Mathematik und Philosophie.

Auch eine Harfe ist ein Instrument mit temperierter Stimmung – außerdem muss das Instrument vor jedem Konzert neu gestimmt werden!

Welche grundsätzlichen Verbindungen bestehen für Sie zwischen Musik und Mathematik?

Bei der Beantwortung dieser Frage erlebe ich oft die ungläubige Gegenreaktion, wonach Musik doch eine rein ästhetische, sinnliche und emotionale Angelegenheit zu sein hat! Aber wie eben schon angedeutet, gehörte die Musik über tausende von Jahren zum Quadrivium, also zur Gruppe der mathematischen Künste. Das hatte mit Sinnlichkeit vorerst nur wenig zu tun, sondern verstand sich als Anwendung der Proportionenlehre und zwar derjenigen der Intervalle, ihrer Skalen und Akkorde. Damit beschäftigten sich Eudoxos, Euklid, Pythagoras und viele andere.

Aber dort liegen eben die Gründe für die meines Erachtens wohl wesentlichste Verbindung zwischen Musik und Mathematik, nämlich der Theorie der Temperierungen, der musikalischen Skalen, ihren Harmonien und ihren Tonartencharakteristiken. Diese Zusammenhänge sind historisch zu begreifen, haben aber ihre Aktualität – also in der Gegenwart – niemals verloren, wenn Sie etwa an die physikalische Schwingungslehre und an die Klang-Akustik denken. Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer mathematischer Anwendungen – wie etwa statistisch und struktur-theoretisch untersuchte Kompositionen – Bach ist da ganz beliebt.

Lassen sich Musik und Mathematik auch auf Augenhöhe begegnen?

Während alle diese „Verbindungen“ in Wahrheit eher nur in eine Richtung gehen – man wendet Mathematik auf musikalische Situationen und Bereiche an und nicht umgekehrt – gibt es aber auch eine Verbindung, bei der sich beide, Musik und Mathematik, auf Augenhöhe begegnen: Das ist tatsächlich der blühende Garten der künstlerischen Ästhetik. Wie ich schon sagte, ist die Mathematik nicht wirklich die graue Maus langweiliger Zahlentabellen. Und wenn man das Glück hat, in ihren oberen Gemächern der Theorien und deren wundersamen intrinsischem Geflecht mitsamt der Raffinesse frappierend genialer Beweise sich wohl zu fühlen, so versteht man die Mathematik ganz anders: Genauso wie man nur dann erfolgreich Wertvolles in der Musik schaffen kann, wenn Inspiration das kreative Potential begleitet, so ist das auch in der Mathematik. Kurz: Wissenschaft findet man nicht (allein) durch Rechnung, sondern vor allem durch Ideen und Phantasien.

Können Sie vielleicht ein konkretes Beispiel für solche Zusammenhänge nennen?

Als Musiker müssen Sie nicht unbedingt an diese mathematischen Grundlagen denken, wenn Sie musizieren wollen. Bei Fragen etwa der Raum-Akustik von Orgel-Pfeifen lässt sich vieles auch experimentell lösen. Vielleicht ein Beispiel hierzu: Ich konnte einmal in Krefeld eine Orgel in einer ziemlich baufälligen Kirche testen, eine große Orgel, die sogar mehrere akustische 32-Fuß-Bässe besaß. Danach stellte ich fest, dass sich Teile des Deckenputzes gelöst und auf den Boden herabgefallen waren. Das lag nicht so sehr an der Lautstärke mit der ich spielte, sondern ist als Resonanzphänomen zu verstehen, wenn bei bestimmten – meist sehr tiefen – Tonschwingungen der Orgel einzelne Bauteile ebenfalls in dieselben Schwingungen (der Eigenfrequenz) geraten und sich deshalb von ihrem Untergrund lösen. Hier könnte die Mathematik etwa dem Orgelbauer Hinweise geben, diese Zusammenhänge zu verstehen. Aber natürlich ist das Hauptbeispiel des Zusammenhangs im pythagoreischen Komma verankert, dem Synonym für das Defizit der Reinheit hinsichtlich der „Schließungs-Vollkommenheit“ einer abstrakten Quinten-Iteration.

Über diese Verbindungen haben Sie ein Buch geschrieben. Schildern Sie bitte die wesentlichen Inhalte dieser Publikation.

Warum schreibt man ein Buch? Sie hatten mich ja danach gefragt, warum ich Mathematik und nicht Musik studiert hatte. Ich habe nun einfach mal versucht, aus „meinen“ beiden Disziplinen gewissermaßen eine Einheit herzustellen. Ursache und Absicht dieses Buches waren und sind aber viel einfacher zu verstehen: Ich hatte darauf hingewiesen, dass ich schon auf vielen, sehr verschiedenen Orgeln spielen durfte. Bei manchen historischen Orgeln begegnet man nun Tonsystemen mit mitteltönigen oder anderen exotischen Stimmungen wie beispielsweise einer der Stimmungen nach Andreas Werckmeister – wie sie Johann Sebastian Bach kannte.

Wenn Sie im Internet unter diesen Begriffen nachschauen, geraten Sie in der Regel an öde Tabellen mit Frequenz- oder Cent-Angaben für die Töne oder Intervalle einer Ton-Skala. Als Mathematiker sind wir mit solchen Antworten jedoch nicht zufrieden. Wir wollen wissen, was dahintersteckt; wie kommt es zu diesen Berechnungen? So hat es mich eine Zeit lang geärgert, wenn ich z. B. an eine mitteltönige Orgel kam – etwa an die Reichel-Orgel der Marktkirche zu Halle – dass ich auch mir selbst gegenüber keine – meiner Verstehens-Maxime gerecht werdende – Erklärung solcher Temperierungen geben konnte.

Und so lag es für mich nahe, einmal der Frage mathematisch methodisch nachzugehen, was denn diese verschiedenen Stimmungen bedeuten, wie man sie berechnet, welchen Konstruktions-Prinzipien sie genügen, welche Zusammenhänge es untereinander gibt – und welche musikalischen Folgerungen zwingend beweisbar sind. Zur Bachzeit gab es 200 bis 300 verschiedene Temperierungen, die für Tasteninstrumente von Bedeutung waren: Gibt es eine Struktur, sie alle mehr oder weniger zu begreifen und zu ordnen?

Wie lässt sich hierfür das Ergebnis Ihrer Überlegungen zusammenfassen?

Was ich also versucht habe, ist eine mathematische Theorie der musikalischen Intervalle zu entwickeln. Außerdem blühen rechts und links dieses Wegs tausend Pflänzlein und Spielwiesen der Arithmetik – aus alter aber auch aus neuester Zeit, wie die Beispiele des Zusammenspiels von Primzahl-Eigenschaften und antiker Konsonanz, oder das kaum zu überschauende Geflecht von Medietäten und der altgriechischen Tetrachordik zeigen. Denken wir an den Kosmos der Enharmonik und ihrer Viertelton-Intervalle – wie den Chromata, Limmata, Apotomen, Diësen und Kommata, so liefert gerade hierbei die Mathematik einen wertvollen und nachhaltigen Verständnisgewinn – und zwar dank bewiesener Strukturphänomene.

Haben Sie Ihre Erkenntnisse über die Zusammenhänge von Musik und Mathematik auch auf den Jazz anwenden können? (Frage aus dem Publikum)

In Ansätzen: ja. Ich habe den Eindruck – und wir wissen dies ja aus der Theorie der Skalen, dass hierbei die Elemente des Jazz und die Lehre der Kirchentonarten bis hin zur Gregorianik – letztere für mich übrigens die Muttermilch der Musik schlechthin – viel miteinander zu tun haben!

Kürzlich wurde die Orgel – also Orgelbau und Orgelspiel – von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Was sagen Sie dazu?

Kürzlich bat mich der Präsident der Gesellschaft der Orgelfreunde, Prof. Dr. Matthias Schneider, um eine Stellungnahme für die Fachzeitschrift „ars organi“. Das ist sie: „Ich empfinde: Freude? Ja! Stolz? auch, gewiss! – Sorgen? O ja! Verpflichtung? Aber ja doch!... Liegt die UNESCO-Liste aller Weltkulturerbschaften nicht auch in der gleichen Schublade der UNESCO wie die UNESCO-Liste aller vom Aussterben bedrohten Arten? Sehen wir also zu!“

Das Interview führte
Prof. Dr. Hartwig Frankenberg

Fotos: Thomas Kalk.

Buchpublikation:

Karlheinz Schüffler:

Pythagoras, der Quintenwolf und das Komma.
Mathematische Temperierungstheorie in der Musik

(2. Auflage 2017) Springer Spektrum, ISBN 978-3-658-15185-0

Weitere Informationen: Förderverein Walcker-Orgel, Krefeld:

www.walcker-orgel-krefeld.de

Karlheinz Schüffler und Hartwig Frankenberg beim Gespräch in der Musikbibliothek.

INTERVIEWREIHE „MUSIK IM GESPRÄCH“: WEITERE TERMINE 2018 / 2019

Zeit: 20:00 Uhr

Ort: Zentralbibliothek / Musikbibliothek / Lesefenster

Bertha-von-Suttner-Platz 1
40227 Düsseldorf


Gabriele Nußberger, Konzertmeisterin und Dirigentin Kammerorchester Kaarst

Michael Becker, Intendant Tonhalle Düsseldorf

Dr. Hella Bartnig, Chefdramaturgin Deutsche Oper am Rhein

Prof. Thomas Leander, Prorektor Robert Schumann Hochschule Düsseldorf

Miro Dobrowolny, Komponist und Dirigent

Julia Polziehn, Cellistin, Dozentin, Regisseurin